Wissenschaft und Praxis

Der Handlungsbedarf im Hinblick auf einen effektiven kollektiven Rechtsschutz ist nicht in neu. In den letzten Jahren haben immer wieder mal Wissenschaftler oder andere Praktiker – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in der Tages-und Wirtschaftspresse auf den hier bestehenden Regelungsbedarf hingewiesen. Die Kritik an der Musterfeststellungsklage in den §§ 606 ff. ZPO zeigt die weiterhin bestehenden Rechtsschutzdefizite.

  • Das British Institute of International and Comparative Law (BIICL) an de Aston University in Birmingham (UK) verfolgt mit der Unterstützung der EU die aktuellen Rechtsentwicklungen. Dazu gehören auch  nationalen Berichte.
  • Die Konrad Adenauer Stiftung hat am 22.06.2018 einen Sammelband mit aktuellen Beiträgen zum Gesetzentwurf der „Musterfeststellungsklage“ herausgegeben.
  • Prof. Dr. Beate Gsell von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) hielt es in einem Interview mit Bayern 2 am 12.04.2018 für sinnvoll, dass die EU-Kommission die Macht der Kunden mit möglichst effizienten Sammelklagen stärkt. Ein weiteres Gespräch fand am 27.10.2018 mit dem SWR 2 (ab ca. 17:55) statt.
  • Prof. Dr. Axel Halfmeier, LL.M. (Michigan) von der Leuphana Universität Lüneburg befasst sich seit Jahren mit dem kollektiven Rechtsschutz. Am Beispiel der „Dieselgate-Klagen“ gegen die Volkswagen AG wirft er auf SZ-Online am 17. Mai 2016 einen Blick auf den Rechtsstand in den USA.
  • Prof. Dr. Michael Heese, Universität Regensburg, verliert im Editorial der NJW 49/2018 deutliche Worte zur Musterfeststellungsklage: „Die Musterfeststellungsklage wird am Ende das sein, was ihr schon heute auf der Stirn geschrieben steht: ein Rohrkrepierer. Es bleibt zu hoffen, dass die europäische Politik den Druck erhöht und endlich effektive Mechanismen für das nationale Prozessrecht aufgibt. …Die Klärung von Fragen grundsätzlicher Bedeutung wird in Verbrauchersachen häufig durch legale Prozesstaktiken der Unternehmen, wie der Flucht in Anerkenntnis, Säumnis und Vergleich, vereitelt. Dem ist entgegenzusteuern: In solchen Verfahren ist von den Gerichten auch bei Anerkenntnis und Säumnis eine Stellungnahme zu den wesentlichen Rechtsfragen zu verlangen. Richterliche Hinweise, die den Impuls für die Vergleichsbereitschaft eines Unternehmens geben, sollten dokumentiert werden und der Öffentlichkeit zugänglich sein.“
  • Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich (Universität Halle-Wittenberg) hat für den 72. Deutschen Juristentag in Leipzig das Gutachten „Sammelklagen, Gruppenklagen, Verbandsklagen – Bedarf es neuer Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes im Zivilprozess?“ erstellt.
  • In einem Interview mit der Augsburger Allgemeine am 18.03.2018 versucht Prof. Dr. Thomas M. J. Möllers zu erklären, warum amerikanische VW-Kunden mindestens 1.000 US $ Entschädigung erhalten, nicht aber die Kunden in Deutschland. Er hält auch fest, warum das Kapitlanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) wenig hilfreich ist.
  • Prof. Dr. Astrid Stadler (Universität Konstanz, Forschung zum Kollektiven Rechtsschutz) bezeichnet in einem Interview mit dem Handelsblatt am 09.05.2018 die Musterfeststellungsklage bzw. MFK oder Musterklage als ein „Placebo-Gesetz“. für einen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung am 17.10.2018 sagte sie: „Damit ist das Gesetz in weiten Teilen nutzlos.“ und „Für Unternehmen ist es deutlich attraktiver, das Musterurteil und etwaige Folgeprozesse abzuwarten, als ohne Not direkte Zahlungen an alle Geschädigten anzubieten„. Schon am 17.06.2008 hatte Prof. Dr. Astrid Stadler für eine Tagung der Verbraucherzentrale Bundesverband den Vortrag „Die Sammelklage nach US-amerikanischem Vorbild – ein Modell für Europa?“ gehalten.
  • Prof. Dr. Christian Wolf, Universität Hannover, kommentiert in der NJW (Heft 49 / 2018 – 2018, 3586) die Entscheidung BGH, Urteil vom 13.09.2018 – I ZR 26/17 zur Gewinnabschöpfungsklage eines Verbraucherverbands mit einem Prozessfinanzierer. Darin moniert er unter anderem die „Amusikalität in Deutschland gegenüber dem kollektiven Rechtsschutz.“
  • Einen vielschichtigen Überblick über etwaige Regelungsmöglichkeiten geben die Rechtsanwälte Alexander Horn und Dr. Markus Rieder (Rechtsanwälte bei Gibson, Dunn & Crutcher LLP) von in „Mehr kollektiven Rechtsschutz wagen?“ unter dem 3. Juni 2022 im ZPO-Blog vom Anwaltsblatt (Deutscher Anwalt Verein). Bezeichnenderweise wird ein Systemwechsel von der Feststellungsklage zur Leistungsklage nicht hinreichend reflektiert.
  • Der  Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Dieter Kempf zeigte sich in einem Gespräch mit dem Handelsblatt am 24.03.2018 „sehr besorgt“, dass der Vorschlag der EU-Kommission für Sammelklagen die geltenden Regeln „zu Lasten der Unternehmen unangemessen verschärft und erhebliche Missbrauchsrisiken schafft.“ Er verlangt auch, die „missbräuchlichen Auswüchse eines Sammelklagen-Systems nach US-amerikanischem Muster zu vermeiden“
  • Rechtsschutzversicherer befürworten Sammelklagen. Dazu hat der ARAG-Pressesprecher Christian Danner am 22.03.2018 gesagt: „Die ARAG SE bewertet Sammelklagen und Musterfeststellungsklagen klar positiv, da sie als sinnvolle Form der Rechtsdurchsetzung naturgemäß die Prozesskosten senken. Wir begrüßen grundsätzlich jegliche Entwicklung hin zu einer Bündelung gleichgelagerter Klagebegehren, wenn hierdurch die Rechte unserer Kunden effektiv durchgesetzt werden.“ Im gleichen Bericht auf www.procontra-online.de vom 22.03.2018 hat Dr. Ulrich Eberhardt, Mitglied des Vorstands der Roland Rechtsschutz-Versicherungs AG erklärt: „Wir halten ein Musterverfahren für ein sehr interessantes Instrument, um den ausufernden Werbemaßnahmen einzelner Kanzleien im Internet, die allein das Ziel haben, an sich gleichartig gelagerte Fälle einzusammeln und sodann individuell gebührenoptimiert abzurechnen, wirksam entgegenzutreten. Das setzt allerdings voraus, dass genau diese vorwiegend eigennützigen Geschäftsmodelle aus dem Kreis der Klageberechtigten wirksam ausgeschlossen bleiben. Zu beachten bleibt aber: Nicht jeder Fall eignet sich für eine Sammel- oder Musterklage. So erzielen wir gerade mit unseren außergerichtlichen Konfliktlösungsinstrumenten große Erfolge.“
  • Im Vorfeld der Musterfeststellungsklagen wegen Ansprüchen von Käufern von Fahrzeugen der Marken VW, Audi, Seat und Skoda mit Dieselmotoren des Typs EA 189 mit Abschalteinrichtungen haben zwei Rechtsanwälte von Freshfields, die VW in rechtlichen Fragen rund um Dieselgate vertreten, am Montag, den 29.10.2018 an einer Telefonkonferrenz teilgenommen. Patrick Schroeder und Anne-Kathrin Bertke sollen nach einem Pressebericht darauf hingewiesen haben, „dass das Ziel, Kunden mit der Möglichkeit zur Musterfeststellungsklage zu helfen, ihrer Meinung nach nicht erfüllt wird.“ Das ergibt sich so auch aus der Leipziger Volkszeitung vom 02.11.2018: „Zehntausende potenzielle Musterkläger hoffen auf einen Vergleich mit VW am Ende des Verfahrens, weil bekannt ist, dass sich der Konzern mit vielen Individualklägern geeinigt hat. Diese Hoffnung dämpft Anwalt Patrick Schroeder von der für VW arbeitenden Kanzlei Freshfields jedoch. „In Anbetracht der vielen individuellen Besonderheiten in den Fällen, in denen Kläger Ansprüche stellen, halten wir einen Vergleich im Musterfeststellungsverfahren für sehr unwahrscheinlich.“ Und was viele in der Debatte vergessen: Volkswagen bleibt trotz des Rückrufs von 2,5 Millionen Fahrzeugen dabei, nicht illegal gehandelt zu haben. Schroeder: „Es handelt sich nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung.“
  • Claus Thiery, Partner und Leiter des Geschäftsbereichs Dispute Resolution bei CMS Deutschland sagte für einen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung am 17.10.2018: „Da Verbraucher im Nachgang an die Sammelklage aber noch individuell prozessieren (und im schlimmsten Fall drei Instanzen durchlaufen müssen), kann es Jahre dauern, bis über ihre Ansprüche endgültig entschieden ist“, sagt Rechtsanwalt Thiery. „Effektiver Rechtsschutz sieht anders aus.
  • Die Justizministerin des Landes Niedersachsen, Barbara Havliza, mahnte in einer Pressemitteilung vom 12.09.2018 im Hinblick auf die wegen Dieselgate zu erwartenden Klagen zur Besonnenheit. Sie sagte unter anderem: „Die Politik ist jedoch gut beraten, einzelne Klagen nicht vor der gerichtlichen Entscheidung als einen Sieg für Verbraucher zu verbuchen. Es darf nicht der Anschein erweckt werden, gerade diese Klage müsse Erfolg haben, die Gerichte müssten das Versprechen der Politik lediglich noch einlösen. Eine solche Bewertung wäre nicht seriös. Ob eine angekündigte Klage auch tatsächlich eingereicht wird, ist ungewiss. Den Ausgang eines Gerichtsverfahrens kann vor Klageeinreichung ohnehin niemand verlässlich einschätzen, denn es ist nicht absehbar, wie die möglichen Verfahrensbeteiligten argumentieren werden. Wir dürfen nicht den Anschein erwecken, den Ausgang komplexer Rechtsstreitigkeiten vorhersehen zu können. Die verfassungsmäßig verbürgte Unabhängigkeit der Justiz muss in jedem Fall unantastbar sein und respektiert werden.“ Damit wendet sie sich gegen die Euphorie, mit der Regierungspolitiker diesen Verfahren entgegensehen. Möglicherweise liegt sie damit auf der Linie der 70. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts und Bundesgerichtshofs.

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